Vor 40 Jahren: West-Deutschland boykottiert Olympia

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Vor 40 Jahren: West-Deutschland boykottiert Olympia

Dass sportliche Gewissheiten erschüttert werden können, ist nicht nur eine Erfahrung des urplötzlich angebrochenen Corona-Zeitalters: Dieser Tage wären die nunmehr auf 2021 verschobenen Olympischen Spiele in Tokio (Japan) zur Austragung gekommen, doch erinnert wird in den Medien gegenwärtig ebenso an den politischen Boykott zahlreicher westlicher Staaten, darunter die frühere Bundesrepublik, bei den Spielen des Jahres 1980 in Moskau. Zu den Leidtragenden gehörten dabei auch die Aktiven der deutschen Wasserball-Nationalmannschaft, die nicht nur sportlich qualifiziert war, sondern auch mit Medaillenchancen in die frühere Sowjetunion gereist wäre.

Damals machte jedoch die Weltpolitik einen Strich durch die Rechnung: In einer sich wieder verschärfenden Phase des Ost-West-Konfliktes war die Sowjetunion im Dezember 1979 in Afghanistan einmarschiert. Angeführt von den USA, verkündeten als Antwort mehrere westliche Nationen einen Boykott der Moskauer Spiele. Während andere Staaten wie Großbritannien oder Italien unter Protest (und unter Olympischen Flagge) dennoch teilnahmen, schloss sich die Bundesrepublik unter politischem Druck nach einer 59:40-Entscheidung des Nationalen Olympischen Komitees am 15. Mai gut zwei Monate vor dem Beginn der Spiele dem Boykott an.

Die damit zum Zuschauen verdammte DSV-Auswahl unter dem 1977 installierten Bundestrainer Niculae Firiou hätte in Moskau sogar zum Kreis der Medaillen- vielleicht sogar Titelkandidaten gezählt. Mit dem 8:6-Erfolg im Sindelfinger Freibad gegen den Titelverteidiger und späteren Bronzemedaillengewinner Ungarn keine zwei Monate vor der Eröffnung der Spiele hatte es sogar erstmals seit 1939 (!) wieder einen deutschen Sieg im Duell mit der Wasserball-Großmacht gegeben. Noch im gleichen Monat folgte bei einem Turnier in Belgrad ein 5:4-Erfolg gegen die in Moskau sogar zweitplatzierten Jugoslawen.

In der Olympiasaison hatte zuvor bereits der deutsche Meister Wasserfreunde Spandau 04 mit einem zweiten Platz im damaligen Europapokal der Landesmeister die gewachsene internationale Klasse des bundesdeutschen Wasserballs bewiesen. Das vom DSV schon frühzeitig festgelegte 11er-Aufgebot für Moskau (mehr Spieler waren damals pro Partie und Championat nicht zugelassen) bestand mit Peter Röhle, Roland Freund, Thomas Loebb, Frank Otto, Hagen Stamm (alle Spandau 04), Günter Kilian, Frank Blümlein, Wolfgang Mechler (SV Würzburg 05), dem Brüderpaar Ralf und Werner Obschernikat (Duisburg 98) und Jürgen Stiefel (SSV Esslingen) aus vielen auch heute noch gut bekannten Namen der Sportart.

Für den heutigen Bundestrainer Hagen Stamm, damals jüngster Spieler der DSV-Auswahl, wäre es die erste Olympiateilnahme gewesen (es sollten immerhin noch drei folgen). Bis heute ist der Berliner dennoch stinksauer auf die Politiker und Funktionäre jener Tage, wie er immer wieder durchblicken lässt. Spandaus langjähriger Torhüter und heutiger Teammanager Peter Röhle war immerhin schon 1976 beim sechsten Platz in Montreal (Kanada) dabei gewesen, doch ohne den Boykott hätten in der DSV-Historie beispiellose fünf Olympiateilnahmen zu Buche gestanden. Neun von elf Akteuren kamen immerhin noch anderweitig zu Olympiateilnahmen, einzig Ralf Obschernikat und Frank Blümlein blieb der Auftritt auf der größten Bühne des Weltsports gänzlich verwehrt.

Olympiasieger wurde in Sichtweite des Olympiastadions in einem Zwölferfeld zum zweiten Mal nach 1972 die Auswahl der Sowjetunion (mit dem jüngst verstorbenen Aleksandar Kabanov), die sich vor Jugoslawien (mit dem späteren Startrainer Ratko Rudic) und Titelverteidiger Ungarn an die Spitze setzte. Auf den weiteren Rängen folgten Spanien, Kuba und die Niederlande. Ein Debakel erlebte dagegen der amtierende Weltmeister Italien mit dem heutigen LEN-Wasserballchef Gianni Lonzi als Trainer, der nicht nur die Endrunde der sechs besten Mannschaften verpasste, sondern sich auch im Vorrundenduell mit einem 4:4-Unentschieden gegen den krassen Außenseiter Schweden begnügen musste.

Unter den aussichtsreichen Wasserball-Nationen jener Jahre hatten neben Deutschland nur die USA die Moskauer Spiele boykottiert. Ein Jahr später wurde die DSV-Auswahl in Split (damals Jugoslawien) tatsächlich Europameister und holte die erste internationale Medaille seit dem EM-Silber von 1938. Dieses Resultat machte jedoch nur umso mehr gewahr, welche sportlichen Chancen die Aktiven neben den nur schwerlich ersetzbaren persönlichen Erlebnissen verpasst hatten. Vier Jahre später boykottierte im Gegenzug dann die Mehrzahl der Ostblockstaaten (darunter die Sportgroßmacht DDR) die Spiele in Los Angeles (USA) – und mussten ebenfalls feststellen, dass dieses vornehmlich enttäuschte Athleten produziert.

Von Wolfgang Philipps